Ein Herz im Winter
„Ein Herz im Winter”
“Un Coeur en Hiver” — “A Heart in Winter”
Frankreich 1992 – Regie: Claude Sautet – Musik: Maurice Ravel
 
 
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epd Film (Evangelischer Pressedienst), Ausgabe Nr. 10/1993, Seite 36 f.

„Ein Herz im Winter”:

{untertitel}

Der Lehrling, der sich von dem Geigenbauer und Restaurateur Stéphane in seiner Kunst unterweisen läßt, ist ein andächtiger Schüler. Gleichwohl folgt er nicht in allem Stéphanes Beispiel: Mit dem Ende des Arbeitstages gibt der Junge seiner Freundin den Vorzug. Stéphane dagegen lebt allein, sein Bett steht in der Nähe der Geigen. Auch nach Feierabend beugt sich der gutaussehende Mitvierziger mit dem verhaltenen Blick, den Daniel Auteuil bald in einem Lauern erstarren läßt, bald zur Abwesenheit dämpft, über ihren Körper.

Der Anfang bestärkt darüber hinaus das wortlose Verständnis, das Stéphane und sein etwa gleichaltriger, doch ungleich weltgewandter Chef Maxime einander entgegenbringen. Aus den Geschäftsräumen der Firma, deren altmodische Noblesse und Gastlichkeit Maximes Wesen zugeordnet sind wie Stéphane das melancholische Dämmerlicht seiner Werkstatt, kommt Maxime Stéphane zu Hilfe. Während Stéphane Klangkörper und Resonanzboden der Geige aufeinanderpreßt, legt Maxime die hölzernen Schraubstöcke an, die das Instrument (bis) zur Vollendung unter Druck setzen. In diesem vierhändigen Einsatz, der sich im Handumdrehen als Metapher einer eingespielten Beziehung zu erkennen gibt, die nur durch Distanz und Aufgabenteilung funktioniert, nehmen die beiden Männer den Wendepunkt der Geschichte vorweg. Bislang war es der dritte Körper, das Medium der Musik, das Medium einer geteilten Berührung, über dem sie zusammenkamen.

Doch die nächste Geige, die Maxime Stéphane zur Reparatur bringt, verkörpert mehr als ein Instrument, das von schnarrenden Seiten geheilt werden soll. Die nächste und letzte Geige, die Stéphane für Maxime zu einer luziden, einer triumphalen, einer erschreckenden Klarheit umstimmt, gehört der Frau, die Maxime liebt. Diese Geige ist nichts anderes als die Zuflucht einer verschlossenen Seele, die in ein Stück Holz gefahren ist.

Der Steg müsse gespannt werden, verkündet Stéphane, dem die ebenso schöne wie spröde Violinistin Camille Kessler (Emmanuelle Béart) zur Diagnose aufspielt. Der Steg aber läßt sich im französischen "l'ame" auch als Seele verstehen. "Die Seele auf den Punkt bringen", das ist eine Formulierung, die Sautet, Authentizität und Doppeldeutigkeit poetisch vermählend, der Sprache der Geigenbauer abgelauscht hat. So wie Sautet diesen Satz instrumentiert, ihn ins Verhältnis setzt zu den ersten, sprunghaft und provokant wirkenden Passagen aus Maurice Ravels "Trio für Klavier, Violine und Violoncello", die Camille Stéphane während ihrer Proben zu einer Schallplattenaufnahme vorspielt, bringt sich noch etwas anderes zu Gehör: Bald danach kommt die mit sich selbst und der Musik ringende junge Frau, die sich von Maxime liebevoll gefördert, doch nicht herausgefordert weiß, aus dem Takt, sobald sie sich von Stéphane beobachtet fühlt. Emmanuelle Béart beherrscht von der gestrengen Musikerin bis zur zunehmend aller Haltung beraubten Liebenden eine Gefühlsspanne, die nicht minder bewundernswürdig ist als die Immitation der musikalischen Technik, die sich die Schauspielerin für den Film angeeignet hat. Ihr gespieltes Geigenspiel, gelenkt und gesteigert von den zunehmend wilderen Tempi des Ravelschen Trios, wird zu vollkommenen Ausdruck der Verwandlung, die Camille durchläuft.Stéphane umwirbt sie eher beiläufig, doch Camille ist entschlossen, jede Aufmerksamkeit als Wink der Liebe zu verstehen.

Sautet setzt indessen andere Zeichen. Während der Schallplattenaufnahmen lehnt Stéphane neben der roten Ampel, die den Moment des (Sich) Produzierens signalisiert und den Zuschauer zum Schweigen anhällt. Die Musikerin, die Frau, die in einem isolierten Raum ihr Äußerstes gibt, der Betrachter hinter den Scheiben, der unbewegt und stumm auf immer ein Voyeur bleibt -- in diesem Licht zeigt sich bei Sautet, was Camille irrtümlich für eine Liebesgeschichte hält.

Eine Frau zwischen zwei Männern, ein Trio im Mittelgrund (mit einem Cellisten, der zudem in Camille verliebt ist), das wäre ein annehmbares, doch wenig beunruhigendes Spiel. Sautet befolgt seine Regeln nur zum Schein, seine Charaktere fügen sich nicht in das Klischee von untreuen Frauen, falschen Freunden und gehörnten Liebhabern. Nicht das Bild, das die Protagonisten abgeben und in Gesellschaft füreinander entwerfen, zählt für Sautet, sondernd er Rahmen der Geschichte, jenes Geflecht aus (Schutz-)Behauptungen und Halbwahrheiten, Täuschungen und Selbsttäuschungen, verkannter und zu spät bekannter Freundschaften, das die Beziehung zwischen Maxime und Stéphane, aber etwa auch die zu ihrem ehemaligen Geigenlehrer Lachaume aufrechterhält.

Gemeinsam haben Maxime und Stéphane das Konservatorium besucht, beide sind sie als Geigenspieler gescheitert. Über die Arbeit hinaus ist es die Zuneigung zu dem todkranken Lachaume, die zwei Männer vereint, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Nicht einmal in ihrem Scheitern als Musiker ähneln sie sich. Der weltgewandte und geistreiche Maxime hat sich bei Lachaume lediglich als talentierter Laie erwiesen, der verschlossene Stéphane bringt sich als Kritiker seiner selbst zu Fall. So absolut ist Stéphanes Gehör, daß er zum Künstler nicht taugt. Die Notwendigkeit der Selbsterprobung, eine Entwicklung, die jedem künstlerischen Fortschritt, aber eben auch jeder Menschwerdung vorangeht, beleidigt sein anspruchsvolles Empfinden. Auch deswegen ist der verstummte Musiker, den das Ausmaß seiner Ansprüche von der Kunst und vom Leben fernhält, in diesem Film des ehemaligen Musikkritikers Sautet ein genialer Restaurateur: Die verdorbene Vollkommenheit ist Stéphanes Passion, weil er Vollkommenheit nicht erreichen, wohl aber wiederherstellen kann. "Du wirst Dich freuen", muntert Maxime, der auf Reisen eine kostbare Geige aufgestöbert hat, Stéphane einmal auf, "sie ist prächtig, doch ruiniert."

Es sind die Nuancen, die Anstrengung, den Figuren und ihren Beweggründen zutiefst gerecht zu werden, die einen Film auszeichnen, der die Vertracktheit menschlicher (Selbst-)Darstellung und Wahrnehmung dem Ausspielen einer Geschichte vorzieht. Die Geschichte könnte Stéphane, der in Anlehnung an ein Experiment des gelangweilten Dekadents aus Lermontovs Erzählung "Ein Held unserer Zeit" Camille das Gefühl der Liebe einflößt ohne sie wiederzulieben, mit der Rolle des Menschenfeindes bedenken. Maxime ließe sich leicht auf den Part des rasend Eifersüchtigen festlegen. Doch bei Sautet geht die Geschichte Umwege, weil es ein Ziel, ein Ankommen für ihre Protagonisten nicht geben kann. Das Zentrum des Films bleibt leer, die Liebe findet nicht statt. Maximes wissentlicher Verzicht auf Camille bleibt eine Geste vergeblichen, verzweifelten Großmuts, weil der Freund, für den er zur Seite tritt, die Geliebte lächelnd verschmäht. Camilles emotionale Bankrotterklärung, ihre Geständnisse und Schreie, ihre Selbsterniedrigung gehen Stéphane schon nichts mehr an. Vollziehen will er sie nicht, diese Liebe, die er aus Neugierde, vielleicht aus Eifersucht auf die zur Liebe Befähigten geweckt hat. "Ich liebe dich nicht", diesen Satz in den Augen der Liebenden wirken zu sehen, einen Skandal zu entfachen, der nur dem des Todes gleichkommt, das ist es, was Stéphane davonträgt: Nicht als Sieg, sondern als Wunde.

Etwas vollkommenes hat er zerschlagen, dennoch werden Zeit und Vergessen die Zerstörung kaschieren. Maxime und Camille werden sich wieder zusammentun. Camille wird aus der Begegnung mit Stéphane ernüchtert und leidgeprüft, und das meint auch, als bessere Künstlerin, hervorgehen. Nur der Restaurateur weiß sich nicht zu helfen. Nicht als Dämon, nicht als Immoralist, nicht mal als Rebell wider die Normalität hat Sautet die Figur des Stéphane angelegt. Viel eher ist er ein Daueranalysand, ein Theatergänger inmitten der Realität, dem die Unfähigkeit aus der Rolle des ewigen Zuschauers auszubrechen, letztlich durch und durch geht. Für einen einzigen Dienst läßt sich dieses "Herz im Winter" erwärmen, das ist der Tod, den nur Stéphane dem siechen Lachaume zu geben vermag. Wenig später wird der Mann, der dem einzigen Menschen, den zu lieben er sich jemals eingestehen konnte, wortlos eine tödliche Injektion gegeben hat, wieder in seinem Stammcafé sitzen. Maxime und Camille werden auftauchen wie früher, zum Abschied werden Küsse vergeben, Blicke verschenkt.

Für den Blick, mit dem Stéphane zurückbleibt, für die Aussicht auf das Leben, das hinter den Bistroscheiben an ihm vorbeizieht, gibt es den Austausch nicht mehr, nicht den Blick, den man wechselt. Der Held unserer Zeit bleibt auf seinen Einsichten sitzen, sei es im Café, sei es im Kino.

von Heike Kühn
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letzte Änderung: 18.07.2004