Ein Herz im Winter
„Ein Herz im Winter”
“Un Coeur en Hiver” — “A Heart in Winter”
Frankreich 1992 – Regie: Claude Sautet – Musik: Maurice Ravel
 
Frankfurter Allgemeine Zeitung
 
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Oktober 1993:

Sie springt, er denkt

Fast nichts, also Kunst – „Ein Herz im Winter”, der neue Film von Claude Sautet

Eine junge, sehr hübsche aufstrebende Geigerin verliebt sich in einen Geigenbauer, und zwar in Paris. O je! Das klingt schon wieder nach Beziehungskiste und prätentiöser Langeweile, überhaupt nach jener „Filmkunst”, die in Europa gerade so dramatisch verfällt. Und der Film ist auch kein bißchen üppig und universal, dröhnend und panisch um die Übertrumpfung seiner selbst bekümmert wie das Hollywoodkino heutiger Machart, das uns der „Spiegel” als Alternative entgegenhält und tapfer gegen den europäischen Protektionismus verteidigt.

„Ein Herz im Winter” von Claude Sautet ist anders — ganz anders, versteht sich, als die Filme, in denen nur die Saurier noch natürlich wirken, die Schauspieler hingegen wie künstlich animierte Sprechpuppen, anders aber auch als all die Kunstfilme, in denen die Kunst ans Kunstwollen nicht mehr heranreicht, zumal wenn sie von einem ohnehin immer seltener gewordenen Thema wie der Liebe handeln. Worin besteht die Differenz?

Sie ist leicht zu erklären, doch schwer zu beschreiben: Sie ergibt sich aus der Konzentration der Schauspieler auf ihre Rollen und der des Regisseurs auf die Schauspieler. Manchmal fällt auch dieser Film hinter sie zurück, etwa wenn Emmanuelle Béart das Geigenspiel mimt — der Anblick scheinmusizierender Schauspieler ist immer etwas peinlich. Die Musik allerdings, Ravels Violin- und Triosonaten mit ihren unbegreiflich organischen Übergängen von rauhesten Staccati in elegantes Schmachten, ist hinreißend.

Zum Tragen kommt die Differenz, von der hier die Rede ist, vor allem in den Dialogszenen zwischen Emmanuelle Béart als Camille und Daniel Auteuil als Stéphane, die zumeist in der Öffentlichkeit stattfinden, in Cafés oder gar unter den Augen des Dritten im Dreieck. Erst durch Maxime (André Dussolier), den Compagnon Stéphanes und Geliebten Camilles nämlich, haben sie sich überhaupt kennengelernt. Die erotische Anziehung ist sofort spürbar, doch kaum dingfest zu machen.

Es ist ein Theater aus verstohlenen Blicken, zusammengekniffenen Lippen, winzigen Verlegenheitsgesten und Gesprächspausen, die eine halbe Sekunde zu lang dauern. Béarts und Auteuils Spiel ist Welten entfernt von der muskulösen Schauspielmethode Hollywoods, in der noch Lidschläge anmuten, als wären sie an Gewichten trainiert. Béart und Auteuil sind Minimalisten, sie gehen an die Grenze des Wahrnehmbaren. So lassen sie den Zuschauern Raum für Projektionen. Errötet sie tatsächlich, als er sie, ausnahmsweise mal, unverwandt ansieht?

Claude Sautet erzählt nicht, wie etwas geschieht, sondern wie etwas nicht geschieht. Stéphane verpaßt die Chance auf Camilles Liebe. Diese Katastrophe begeht der Film in aller Stille. „Ich begehre Sie”, sagt Camille, mit aufgeregtem, weit offenem Blick. Dies erinnert an eine Stelle in Sartres „Ekel”: Man müsse „eine Verblendung haben”, um jemanden zu lieben, heißt es da, „es gibt sogar einen Moment, ganz am Anfang, wo man über einen Abgrund springen muß: wenn man nachdenkt, tut man es nicht.” Camille springt, Stéphane denkt nach. „Ich liebe Sie nicht”, sagt er dann und lügt dabei.

Ihr Blick erlischt, seiner bleibt undurchdringlich — fast nichts ist den beiden anzusehen. „Fast nichts” – presque rien – hieß eine Kategorie der klassischen französischen Theaterästhetik. So wurde die unbenennbare Nuance umschrieben, die Kunst von Prätention abhebt. Die Zuschauer müssen empfindlich genug sein, solche Nuancen zu registrieren, um die Abgründe der Leidenschaft unter der stillen Oberfläche zu ermessen. Im deutschen Publikum wird „Ein Herz im Winter” daher wohl nur wenige Freunde finden.

von Thierry Chervel
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letzte Änderung: 18.07.2004