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die tageszeitung, TAZ-Hamburg, Nr. 4820 vom 11. Januar 1996, Seite II, Hamburger Kulturkalender
Ein Herz im Herbst
Würdelos und vital im würdigen Alter: Michel Serrault
in Nelly und Monsieur Arnaud
Selten ist eine Handlung so einfach und kurz zusammenzufassen
wie im Falle von Nelly und Monsieur Arnaud von Claude Sautet.
Der pensionierte Richter Monsieur Arnaud bietet einer jungen Journalistin
in Geldschwierigkeiten Hilfe und einen Job an: Nelly soll seine
Lebenserinnerungen abtippen. Daraufhin trennt sie sich, jetzt
schuldenfrei, von ihrem Mann. Während sie Arnaud näherkommt
und sich ihrer beider Leben nicht zuletzt durch die Arbeit an
seiner Biographie verstricken, beginnt sie ein unverbindliches
Verhältnis mit seinem Verleger. Will man den Schluß icht verraten,
war's das schon. Aber nur an der Oberfläche.
Mit schöner Regelmäßigkeit bringt Claude Sautet jetzt schon
seit geraumer Zeit ein ums andere Mal kleine irritierende Meisterwerke
hervor. Filme, an denen man lernen kann, der Oberfläche zu mißtrauen
denn wenn der Blick sie nicht durchbricht, bleibt das Wesentliche
verborgen. Das ist nun nicht mehr als eine Binsenweisheit und
doch bei Sautet besonders bedeutsam, da es sein eigentliches Thema
darstellt, inner- und außerhalb der Handlung. In Ein Herz im
Winter ging es um den Versuch, Liebe zu erzeugen, wo keine sein
kann. Es ging um Zeichen der Liebe, deren Mißdeutung der Protagonistin
gemeinsam mit dem Zuschauer wiederfuhr.
Nelly und Monsieur Arnaud nun könnte auch heißen: Ein Herz
im Altersheim. Der ältliche, aber würdevoll-vitale Monsieur
Arnaud gespielt von Michel Serrault, dessen Loblied zu singen
hier etliche Seiten füllen würde ist das Movens, seine Wohnung
der Fluchtpunkt der Geschichte. Er versucht Nelly (Emmanuelle
Béart) an sich zu binden, aber nur über den Umweg seiner
Autobiographie. Er fordert sie auf, Stellung zu beziehen, seine
Arbeit zu kritisieren, seine Handlungen zu beurteilen (welche
ja wiederum, da von ihm selbst beschrieben, fiktiv sein könnten).
Gleichzeitig gesteht er sich eine erotische Annäherung nicht
mehr zu. Nach eigenem Bekenntnis hat er damit abgeschlossen. Um
so größer dann der Schock, wenn er dann im Streit ihr hinterherruft:
Sie sollten mal ordentlich ficken! Mit wem? Doch mit ihm? Später
übernachtet sie in einem seiner vielen Zimmer. Er sitzt an ihrem
Bett und betrachtet sie. Sie wacht auf und ist keineswegs überrascht.
Erotisch? Oder gerade nicht, da gar nicht die Gefahr besteht,
daß etwas passiert?
Genau hinschauen muß man also, daß einem vor allem nicht die
Selbstinszenierungen und Konventionen, die zwischen den Figuren
und ihren Gefühlen stehen und bei Sautet durch das exakt postierte
Mobiliar veranschaulicht werden, den Blick verbauen. Und observieren
darf man, man wird förmlich dazu eingeladen: Fenster, Spiegel,
offene Türen machen die Räume weit, leicht einsehbar. Ein Trugschluß,
denn die inneren Türen, die man nicht sieht, die klemmen.
von Sven Sonne
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