Der Tagesspiegel, Nr. 15503 vom 11. Januar 1996
Verletzlich bleiben.
Regisseur Claude Sautet über seinen Film Nelly und Monsieur
Arnaud.
Claude SAUTET, Experte für sanfte, melancholische, äußerst
französische Kammerspiele, hat einen neuen Film gedreht: Nelly
und Monsieur Arnaud. Marcus Rothe sprach mit dem Regisseur über
Frauen und Männer, über Bourgeoisie und Brasserien, über seine
neuen Hauptdarsteller und über Romy Schneider.
TAGESSPIEGEL: Ihre Filme erzählen immer vom Unglück.
SAUTET: Ich glaube nicht, daß es glückliche Menschen gibt.
Allenfalls gibt es Paare, die ein ganzes Leben halten, weil sie
ihre Auseinandersetzungen meistern.
TAGESSPIEGEL: In Ihrem neuen Film gibt es nur ein glückliches
Paar. Das wird aber schnell abserviert.
SAUTET: Ja, es gibt keine einzige stabile Beziehung. Seit die
Frau durch die Entwicklung des Wohlstands eine neue gesellschaftliche
Rolle spielt, sind die Paare unstabiler geworden. Vielleicht werden
die Paar- und Familien-Beziehungen durch die heutige Wirtschaftskrise
wieder enger.
TAGESSPIEGEL: In den 70er Jahren haben sie noch Filme über
Gruppen gemacht.
SAUTET: Ja. An Vincent, Francois und Paul hat mich überrascht,
daß sich drei ungefähr 50jährige Männer wie eine Horde Jugendlicher
benehmen können. Nach einigen Rückschlaegen glauben sie, sich
gegenseitig durch gemeinsame Albereien aufwärmen zu können.
Damals wollte ich die Einsamkeit innerhalb einer Gruppe beschreiben.
Heute will ich ein kleines Thema entfalten.
TAGESSPIEGEL: Der Schauspieler Michel Serrault sieht Ihnen überraschend
ähnlich.
SAUTET: Er wurde es während der Drehzeit. Ein guter Charakterschauspieler
versucht immer herauszufinden, woraus der Autor und Regisseur
besteht. Mein Unterschied zu Serrault: Er hat eine wunderbare
Diktion, während ich nur Kauderwelsch rede.
TAGESSPIEGEL: Spielt Emmanuelle Béart für Sie heute
eine ähnliche Rolle wie früher Romy Schneider?
SAUTET: Romy Schneider kam aus der deutschen Kultur und war
schon 31 Jahre alt, als ich sie kennenlernte. Sie gefiel mir als
Frau. Emmanuelle Béart ist sehr anders als Romy. Sie interessiert
mich, weil ihr Gesicht eine fast nackte Sinnlichkeit hat besonders
wenn ihre Haare zurückgesteckt sind wie in Ein Herz im Winter
und Nelly. Gleichzeitig ist sie sehr zurückhaltend und würdig.
Emmanuelle kann man fast ganz ohne Effekte interessant filmen.
TAGESSPIEGEL: Ist diese Frisur Ihre Obsession?
SAUTET: Das muß aus der Kindheit kommen. Frauen, die gleichzeitig
sehr sinnlich und sehr diskret sind, haben mich immer wieder zum
Träumen gebracht. Ihre Haltung versteckt ihre Schwäche.
TAGESSPIEGEL: In Ihren Filmen meistern Frauen oft mehrere Männer
auf einmal.
SAUTET: Sie fühlen sich von misogynen Männern angezogen, weil
die meist viel Charme haben. Misogyne Männer sind keine Machos:
Sie lieben die Frauen, schaffen es aber nicht, mit einer zu leben.
Mich interessiert der Moment, an dem diese Männer aus sich herausgehen
und ihren frauenverachtenden Schutz aufgeben müssen.
TAGESSPIEGEL: Bourgeoisie-Kritik à la Chabrol interessiert Sie
nicht?
SAUTET: Ich komme aus dem kleinbürgerlichen Milieu der Pariser
Banlieue. Meinen bürgerlichen Figuren ist meist das Leben mißlungen.
Am Ende stehen sie nicht gerade glänzend da. Weil ich aber immer
nach ihren verletzlichen Seiten suche, lassen wir uns manchmal
von ihnen rühren.
TAGESSPIEGEL: Sie scheinen Szenen in Autos und Bars besonders
zu lieben.
SAUTET: Mein ganzes Leben lang begegne ich den Menschen in Cafès
oder Autos. Die Autos kommen daher, daß ich alle meine Szenen
mit Frauen immer in Autos abgespielt haben diese großen Diskussionen.
Und in meinem Geburtsort Montrouge, bei Paris, lebte ich fast
nur in den Cafès und Brasserien. Da ich sehr schüchtern war,
konnte ich dort unbemerkt Menschen beobachten. Sie sind so wie
der melting pot auf den Tribünen der Fußballstadien. Bars
und Cafès vermitteln die Illusion einer großen Harmonie.
das Gespräch führte
Marcus Rothe
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