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Der Tagesspiegel, Nr. 15503 vom 11. Januar 1996
Die Wahrheit in der Lüge.
Claude Sautets neuer Film Nelly und Monsieur Arnaud, ein diskretes
Fest für zwei, drei Schauspieler.
Wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Was in diesem Film passiert,
passiert nicht auf der Leinwand. Die aufgeworfenen Fragen werden
nicht beantwortet, die Erregungen nicht beruhigt. Am Schluß sind
wir nicht klüger als vorher sieht man davon ab, daß wir mit
besseren Fragen ausgestattet sind. Von Action keine Rede. Trotzdem
hat man nach dem Film das Gefühl, einigen der gewöhnlich verborgenen
Räder des Getriebes, das wir Leben nennen, beim Arbeiten zugesehen
zu haben. Der Film hinterläßst eine seltsame Sattheit, das Gefühl
eines Privilegs. Wieso?
Nicht nur wegen des optisch-geistigen
Genußes in diesem typischen Sautet-Seelenpsychogramm: mit glänzenden
Schauspielern und einem präzisen Co-Autor (wie oft: Jacques Fieschi).
Sondern auch, weil hier nirgendwo richtig zur Grenze gegangen
wird. Kräfte zwischen Menschen werden aufgebaut, Physiognomien
ausgestellt, und dann sehen wir diese Gesichter sich verbergen.
Sehen die Körper kurz vor der Handlung, auf die sie zusteuern,
Halt machen. Sehen die ständige Beherrschung in den Zügen, die
Grenze auf ihrer Haut, in ihren Konturen. Was Männer und Frauen
zueinandertreibt, glauben wir zu wissen. Ihre Unterschiedenheit
nährt den Eros zwischen ihnen.
Was aber treibt hier alte Männer
und junge Frauen zueinander? Wieso kann man überall in Cafès,
zumindest in Paris, diese Art Paar zusammen sehen? Worin liegt
die seltsame Art Glück, die beide daraus ziehen? Dies ist die
Frage, die den Regisseur Claude Sautet, wie er sagt, seit seiner
Jugend verfolgt. Und er wird nur dann eine gute Art Film daraus
gemacht haben, wenn er das Geheimnis nicht klärt, sondern zeigt.
Er hat einen guten Film daraus gemacht.
Das Rätsel erhält Konturen.
Emmanuelle Béart ist vielleicht die einzig angemessene
Besetzung für so eine Rolle: perfekt Frau, sich nicht hinter
Mädchenhaftigkeit verbergend (wie beispielsweise Huppert) und
dennoch mit sämtlichen Nuancen und Tabuzonen eines jungen Mädchens
ausgestattet: kaum eine Schauspielerin beherrscht diese Kombination
mit solchem Ernst. Claude Sautet (Ich selbst wäre lieber eine
Frau geworden) macht aus ihr jene französische Frau, die Regis
Wargnier vergeblich suchte. Michel Serrault wiederum, eigentlich
Komiker, spielt hier zunächst ein weißes Blatt Papier.
Sein Arnaud ist ein milder Grandseigneur Anfang Siebzig, der
von seiner Frau getrennt lebt und reifen Freundinnen ein Seelenfreund
ist. Nelly (Béart) trifft ihn in Begleitung ihrer Freundin.
Sie läßt mich freundlicherweise an ihren Problemen teilhaben,
sagt Arnaud. Nellys Probleme wiederum sind schlicht, Geldmangel
und die bevorstehende Scheidung von einem Künstler, der die Tage
im Bett verbringt, während sie Baguettes verkauft.
Arnaud bietet
der jungen Frau den Job an, seine Memoiren zu tippen. Beide werden
Zeuge einiger Rätsel und Inkohärenzen des Gegenübers. Beide
werden einander offen ins Gesicht lügen. Beide werden das wissen
und daraus eine gewisse selbstquälerische Lust ziehen. Bald hat
sie einen neuen Lover (Jean-Hugues Anglade), und Arnaud doch
nehmen wir nichts vorweg.
Wie schon in Sautets Ein Herz im Winter
versteckt sich die zentrale Beziehung hinter einer anderen, konventionellen
und lebt von ihrer Unmöglichkeit: ein Gemeinplatz in der Liebe.
Das Ende ist unbestimmt und leicht wie ein Souffle und kultiviert
einen Mut zum Uneindeutigen, der so undeutsch ist wie möglich.
Sautet, der frühere Musikkritiker, zeigt Psychogramme auf musikalische
Art: zeigt sie in Choreographie und Körpersprache, verbirgt sie
in Worten. Wir sehen Gesichter, deren Würde darin liegt, vom
Begehren abzulassen. Die Wahrheit wird über die Lüge offen ausgedrückt
oder mit einem Bleiben Sie im Halbschlaf offenbart. Sautet reduziert
und entschlackt seine Filme zusehends der Prozess des Bildhauers.
Hier zeigt er die Vorsicht menschlicher Geste, die Hände, wie
sie drucklos beruhen, obwohl in den Torsen die Kraft steht. Stärker
stemmen die Götter uns an, sagt Rilke. Doch dies ist Sache
der Götter."
in Berlin: Filmpalast, Lupe 2, Notausgang.
von Simone Mahrenholz
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