Ein Herz im Winter

„Ein Herz im Winter
Zeitungskritiken zum artverwandten Film:

„Nelly & Monsieur Arnaud”

Die Zeit
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Die Zeit, Nr. 3/1996 vom 12. Januar 1996, Seite 54, Feuilleton/Kino

Ein Alltagsparadies

Claude Sautets Film „Nelly & Monsieur Arnaud”

Ein älterer Mann und eine junge Frau: Gespräche, Erzählungen, knappe Blicke, scheue Gesten. Mehr nicht: ein Film nahezu ohne Geschichte; eine Vision aus Fragment und Skizze. Ein Kino wie das Leben selbst, das nicht mehr die Menschen beschreibt, sondern „das Leben allein, das, was zwischen den Menschen ist, den Raum, den Ton, die Farben.” Die alte Utopie von Godards „Pierrot le Fou”, die später bei Wenders wieder auftauchte, im „Stand der Dinge”.

Die junge Frau, ständig in Geld- und Jobnot, ist gerade dabei, sich von ihrem Mann zu trennen. Der ältere Mann ist dabei, die letzte Summe zu ziehen; er schreibt an seinen Memoiren, über die Zeit als Richter in den französischen Kolonien. Eines Tages begegnen sie sich über eine gemeinsame Freundin, und er erfährt dabei von ihren Schwierigkeiten.

Spontan bietet er ihr die Mitarbeit an seinen Erinnerungen an. Aus dieser zufälligen Begegnung entsteht vertrautes Empfinden, aus dem wiederum zaghafte Zuneigung sich bildet. Die Frau fühlt sich sicherer und sieht sich neu um; der Mann reagiert irritiert und schaut, erstmals seit langem, nach innen.

Eine Situation, die – um nur bei Sautets näheren Kollegen zu bleiben – üblicherweise benutzt wurde für Größeres und Gröberes. Bei Autant-Lara wäre sie zum Melodram entwickelt, bei Clement zur übergroßen Tragödie entworfen, bei Lelouch zur Schnulze verkommen.

Sautet macht daraus einfach einen visuellen pas de deux. Michel Serrault, der Komödienkaspar, und Emmanuelle Béart, la belle noiseuse: Beide spielen gegen ihr Image und entzücken gerade durch ihre ungewohnte Schlichtheit. Ihre Zuneigung ist, im Sinne von Oscar Wilde: „frei wie die Flucht, wild wie der Wind!”

Um die beiden herum: ihre ehemaligen Partner, ein paar Freunde, der dynamische Verleger, der nicht nur auf die Memoiren des älteren Mannes aus ist. Und Michael Lonsdale taucht mehrmals auf, angeblich, um Geld einzutreiben. Sautet inszeniert ihn als MacGuffin, als nebensächliches Detail, das irgendwann die Fragen im Zentrum bündelt: Wer? Und wie? Und wieso? Lonsdale ist zudem der einzige, der den männlichen Blick auf die schöne Emanuelle wagt, voll insgeheimer Wollust: der Stellvertreter für uns männliche Zuschauer auf der Leinwand.

Ausgangspunkt für diesen Film, sagt Sautet, sei ein Bild gewesen, das ihm seit seiner Jugend vor Augen stehe: das eines älteren Mannes, der im Cafe neben einer jüngeren Frau sitze, bei Kaffee und Cognac, beide vertieft in intensive Unterhaltung. Ein Bild — jenseits von familiärer Idylle oder offener Prostitution. Ein Bild, das Fragen stellt, ohne Antworten zu geben. Und genau so legt Sautet auch seinen Film an: „Nelly & Monsieur Arnaud” erzählt nicht, er gibt einer Situation Kontur, die an den Dogmen des Üblichen kratzt. Er zeigt ganz offen die Schwächen seiner Helden, ohne sie doch bloßzustellen; was wiederum ihre Stärken hervorhebt, ihre Phantasie und ihre Kraft.

Nur einmal ein Streit; der dann aber so heftig, daß sich die Fronten klären. Er nörgelt herum, schreit und schimpft, wirft ihr vor, nicht mehr bei der Sache zu sein. Sie, sichtlich getroffen, wartet einen Moment, dann entscheidet sie, einfach zu gehen. Was seine Wut zum Äußersten treibt. „Du solltest wieder einmal richtig ficken!” Sie bleibt abrupt stehen und verharrt, die Kamera blickt dabei starr auf ihren Rücken; dann geht sie weiter zur Tuer, dreht sich kurz um und lächelt: „Morgen geht's leider nicht. Aber am Mittwoch. Bis Mittwoch?” Sie sieht sein Begehren hinter der Beleidigung, seine Eifersucht hinter der Eiferei. Das macht sie ruhig und freundlich.

Die entsprechende Szene, in Umkehrung, kurz danach. Sie, völlig niedergeschlagen, sucht Ruhe und Verstaendnis bei ihm. Sie reden und trinken, schließlich bleibt sie über Nacht. Er ist berauscht von ihr, verliebt und fasziniert. Während sie schläft, schleicht er zu ihr, schaut sie voller Entzücken an. Als sie plötzlich erwacht, will er sich schnell davonstehlen. Doch sie lächelt ihn nur an, ergreift seine Hand und schläft weiter. Nach dieser Szene ist alles klar, ohne daß ein einziges Wort darüber verloren würde: Die Würfel sind gefallen.

Je älter Claude Sautet wird, desto ruhiger und schlichter werden seine Filme. Keine großen Tragödien mehr, wie noch in „Einige Tage mit mir” und „Ein Herz im Winter”; auch keine melancholischen Burlesken wie in den sechziger und siebziger Jahren um Romy, Yves und Michel. Nur noch Visionen um ein Bild, über das andere Bilder entstehen.

Sautets neue Ausdrucksweise, sie ist, wie beim alten Velasquez (nach Elie Faure), ein Spiel mit Zwischentönen: „Alle Dinge, die er filmt, umgibt er mit Luft und Dämmerung; überraschend die Schatten und die Transparenz der Hintergründe; die farbigen Reflexe, die er zum unsichtbaren Mittelpunkt seiner Kompositionen macht. Er erfaßt in der Welt nur noch die geheimnisvollen Veränderungen; Veränderungen, die Formen und Töne einander durchdringen lassen — in einem unaufhörlichen Fließen, bei dem kein Stoß, kein Ruck die Bewegung stört oder unterbricht. Der Raum allein regiert…”.

Vom ersten Film an war Sautet ein Melancholiker. Sein Blick auf die Welt ist heiter, dabei aber wehmütig und schwarz: Gelegentlich (wie etwa in „Kollege kommt gleich”) wollte er das durch Humor kaschieren. Aber dann hielten seine Bilder nicht mehr, was seine Zuschauer sich von ihnen erhofften. Nun, mit seinem neuen Film, erweist sich Sautet zudem als Mystiker. Er versenkt sich in alles, was seine Protagonisten umgibt: Straßen, Häuser und Cafès, Möbel, Bücher und Gemälde. In allem findet er einen Widerhall seiner „Geschichte”. Auf eine gewisse Weise filmt er, als suche er stets das letzte, endgültige Bild zu entwerfen. Er beschwört das Paradies — und findet darüber die Alltagsdinge des Lebens.

von Norbert Grob
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