Ein Herz im Winter
„Ein Herz im Winter” — “Un Coeur en Hiver” — A Heart in Winter”
Frankreich 1992 – Regie: Claude Sautet – Musik: Maurice Ravel
mit André Dussollier (Maxime), Emmanuelle Béart (Camille) und Daniel Auteuil (Stéphane)
 
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Frankfurter Rundschau
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Frankfurter Rundschau, 6. Dezember 1993, Seite 8

Fünf vor Zwölf

Eigentlich ein Kinoabend mit Preisvergabe: Die Verleihung des Europäischen Filmpreises „Felix” in Babelsberg

POTSDAM. Michelangelo Antonioni war persönlich da. Er erscheint als ein sehr alter und auch etwas gebrechlicher Mann jetzt, er hielt keine Rede, und die wenigen Schritte, die er von seinem Sitz aus vor das Publikum machte, um den „Felix” für ein Lebenswerk entgegenzunehmen, waren nicht das, was man gewöhnlich Auftritt nennt. Aber wenn Festlichkeit die Bereitschaft zum gesammelten und höheren Moment meint, dann war sie am Samstag abend in den Babelsberger Filmstudios der Präsenz Michelangelo Antonionis zu verdanken, und ein eher nüchternes, leicht schleppendes, bisweilen trockenes Fest des Europäischen Filmpreises hatte eine Richtung, buchstäblich eine Blickrichtung. Denn die Preisträger, die im Laufe des Abends aufs Podest stiegen und die armlange, bizarr verdrehte Figur namens „Felix” abholten, wandten sich dankend, freudig oder für den europäischen Film pamphletisierend direkt oder indirekt an den italienischen Regisseur in der ersten Reihe.

Fast alle, besonders der Österreicher Michael Haneke, der für „Benny's Video” den Preis der Kritik bekam, wie Lehrlinge, die beim Meister den Gesellenbrief abholen. Und wie ein solider, selbstbewußter Handwerksbetrieb, der der industriellen Konkurrenz trotzt und sich Wehleidigkeit verbietet, wollte die europäische Film-Family dastehen und vor allem eines vermeiden: Den Eindruck, sich, wie gehabt, an einem zwerghaften „Oscar”-Zwilling zu versuchen. Fünf vor Zwölf ist auch kein Zeitpunkt, um ein Tänzchen um die Uhr zu veranstalten. Noch vor kurzem war von Wim Wenders, dem Kopf der Europäischen Film-Akademie, zu hören, er wüßte nicht, was es zehn Tage vor der Gatt-Entscheidung zu feiern gäbe. Die zehn Tage bis zum 15. Dezember zählen in der genau hundert Jahre langen Geschichte des europäischen Films als die entscheidenden fünf Minuten. Wenders hatte aber bei der vorangehenden Pressekonferenz vor einem simplen Antagonismus USA Europa, Kunst Kommerz gewarnt. Amerikanische Regisseure wie Martin Scorsese, Regisseure mit einem Independent-Bewusstsein, wüßten und sagten, daß der amerikanische Film das transatlantische Echo brauche. An der Persönlichkeit von Wim Wenders, an dieser Art von pragmatischem Visionismus, hängt in diesen Tagen viel. Es ist zu sehen, daß gerade er, dem man märchenhaften Mystizismus oder Weltferne vorwirft, die europäische Tradition des engagierten Künstlers verkörpert, den die Politik nicht aus der Bahn der Kunst wirft.

Fünf vor Zwölf geht es nicht um Champagner-Folklore, sondern um Charakter. Die Wörter „Gala” und „Show” wurden im Um- und Vorfeld der „Felix”-Veranstaltung streng vermieden. Für Firlefanz war auch kein Geld da. Vier Millionen Mark kostete der „Felix” 1992, 2,3 Millionen in diesem Jahr, und einen beträchtlichen Teil zahlte das Land Brandenburg. In Babelsberg war „Felix” schon 1992, und dort scheint er in seinem sechsten Lebensjahr nun endgültig eingeschult und fester reglementiert zu werden. 1993 kamen nur noch Filme in den Endspurt, die in drei europäischen Ländern einen Verleih haben. Da ist ein Kompromiß zuungunsten sperriger und ungewöhnlicher Ästhetik, andererseits der rettende Versuch, „Felix” aus dem Pusemuckel-Schatten ins Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Daß die Fernsehaufzeichnung beim ZDF aus der Unterhaltungsredaktion in die Filmredaktion transferiert wurde, ist ein anderes Indiz fürs Sichfügen ins Faktische. Denn der Samstag war weiß Gott kein flirrender Unterhaltungsabend, sondern die lockere Verlängerung einer Akademiesitzung mit dem Charakter kämpferischer Selbstwerbung des europäischen Films. Eigentlich ein Kinoabend mit Preisvergabe. Was unterhaltsam wirken sollte, spielte sich nicht auf der Bühne, sondern auf der Leinwand ab. Ein gutes Dutzend filmischer Grußadressen von allen möglichen derzeitigen Drehorten in Europa kam nach Potsdam, dazu gefilmte Gatt-Statements von Stars wie Michel Piccoli. Über einige der Spots sollte sich freundliches Schweigen legen.

Die enorme Filmprominenz im Babelsberger Saal war nicht gekommen, um zu glänzen, sondern um ein Gefühl zu stärken, das des filmeuropäischen Selbst. Jeanne Moreau und Otto Sander sollten die Moderation übernehmen. Aber Jeanne Moreau war krank geworden, und Fanny Ardant sprang für sie ein. Ardant, der französischen Eleganten mit der Erotik latenter Hysterie, stand der Sinn nicht nach Publikumsverführung, sondern nach deutlichen Worten, und das Thema europäische Filmkulturvernichtung glitt in alles, was sie sagte, in die Begrüßung wie in die Erinnerung an Federico Fellini. Fünf vor Zwölf geht es eben nicht anders. Otto Sander, der magere Berliner Engel, der zwischen Hölderlin-Versen und Purzelbäumen keinen wesentlichen Kunstunterschied macht, fand für seine Stimmungsqualitäten bei soviel Ernst der Sache nicht den rechten Rahmen. Er ist, ohne Bühne, Rolle und Drehbuch, fast ein wenig schüchtern. Aber wo es moderat zugeht, haben die Schweigsamen wie Michelangelo Antonioni und die Schüchternen ihren Platz und oft die schönste Wirkung. Maia Morgenstern, die für ihre Rolle in dem rumänischen Film „Balanta” von Lucian Pintilie den Preis als europäische Schauspielerin des Jahres bekam, machte dreimal den Mund auf und wieder zu, bis sie ein Wort ins Mikrophon bekam, drückte den „Felix” an sich, lief vom Podest weg und wurde geliebt.

Daniel Auteuil, der in dem französischen Film „Ein Herz im Winter” von Claude Sautet die Versteinerung eines Schüchternen spielt und dafür den Preis als Schauspieler des Jahres erhielt, wurde von seinem Regisseur bei der Preisvergabe vertreten.

Sally Potter aus England spricht und filmt selbstbewußt. Sie verfilmte „Orlando”, und dieser üppigen Epochen- und Geschlechterreise wurde der Preis in der Kategorie „Junger Europäischer Film des Jahres” zugesprochen. Zum Hauptpreis hin steigerte sich die Stimmung in Richtung Temperamentsausbruch. Schon weil Werner Herzog den Hauptpreis bekanntgab. Er riß seinen Freund Nikita Michalkov in Umarmungslust vom Boden weg.

Michalkovs Film „Urga” ist der Gewinner als Europäischer Film des Jahres. Nicht gerade ein ganz neuer Film. Aber nach den Reglements muß ein Film im Heimatland im Verleih sein, und das dauerte für Urga in Russland ein wenig. Dem allen ging noch ein Sonderpreis und ein besonderes Moment voraus. Den Preis für besondere Verdienste erhielten Erika und Ulrich Gregor aus Berlin und Naum Kleiman aus Moskau. Kleiman ist Filmhistoriker und Direktor des Moskauer Filmmuseums. Bei den Gregors ist es schwer zu sagen, was sie sind, da sich die Aufgaben, die Herz und Hirn in einem Körper erfüllen, funktionell nur unzureichend definieren lassen. Die Gregors sind zwar „Gründer und Leiter des Internationalen Forums des jungen Films der Berliner Filmfestspiele”. Aber was heißt das? Sie sind das Zentrum eines Kreislaufs, in dem Filmkultur, Filmgeschichte und Filmfreundschaft zirkulieren. Sie sind Freunde von Naum Kleiman aus Moskau zum Beispiel, was man sehen konnte.

Im übrigen weiß die europäische Filmöffentlichkeit jetzt, wie sich, nach Selbstaussage von Frau Gregor, die Gregors kennengelernt haben. Erika (noch nicht „Gregor”) besuchte die Vorführung des Films „Menschen am Sonntag” in einem studentischen Filmclub mit anschließender Diskussion. Sie äußerte eine Meinung, die sich zu allen anderen geäußerten Meinungen konträr verhielt und ging weg, wie man ahnen kann, leicht indigniert. Einer, als Ulrich Gregor namentlich noch nicht bekannt, kam ihr nach und fragte, ob sie nicht mal wieder kommen würde, die Diskussionen seien normalerweise zu langweilig. So also fangen Leidenschaften und leidenschaftliche Lebenswerke an.

von Ursula März
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