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Frankfurter Rundschau, 6. Dezember 1993, Seite 8
Fünf vor Zwölf
Eigentlich ein Kinoabend
mit Preisvergabe: Die Verleihung des Europäischen Filmpreises
Felix in Babelsberg
POTSDAM. Michelangelo Antonioni war
persönlich da. Er erscheint als ein sehr alter und auch etwas gebrechlicher
Mann jetzt, er hielt keine Rede, und die wenigen Schritte, die er
von seinem Sitz aus vor das Publikum machte, um den Felix
für ein Lebenswerk entgegenzunehmen, waren nicht das, was man gewöhnlich
Auftritt nennt. Aber wenn Festlichkeit die Bereitschaft zum gesammelten
und höheren Moment meint, dann war sie am Samstag abend in den
Babelsberger Filmstudios der Präsenz Michelangelo Antonionis zu
verdanken, und ein eher nüchternes, leicht schleppendes, bisweilen
trockenes Fest des Europäischen Filmpreises hatte eine Richtung,
buchstäblich eine Blickrichtung. Denn die Preisträger, die im
Laufe des Abends aufs Podest stiegen und die armlange, bizarr verdrehte
Figur namens Felix abholten, wandten sich dankend, freudig
oder für den europäischen Film pamphletisierend direkt oder indirekt
an den italienischen Regisseur in der ersten Reihe.
Fast alle, besonders
der Österreicher Michael Haneke, der für Benny's Video den Preis
der Kritik bekam, wie Lehrlinge, die beim Meister den Gesellenbrief
abholen. Und wie ein solider, selbstbewußter Handwerksbetrieb,
der der industriellen Konkurrenz trotzt und sich Wehleidigkeit verbietet,
wollte die europäische Film-Family dastehen und vor allem eines
vermeiden: Den Eindruck, sich, wie gehabt, an einem zwerghaften
Oscar-Zwilling zu versuchen. Fünf vor Zwölf ist auch
kein Zeitpunkt, um ein Tänzchen um die Uhr zu veranstalten. Noch
vor kurzem war von Wim Wenders, dem Kopf der Europäischen Film-Akademie,
zu hören, er wüßte nicht, was es zehn Tage vor der Gatt-Entscheidung
zu feiern gäbe. Die zehn Tage bis zum 15. Dezember zählen in der
genau hundert Jahre langen Geschichte des europäischen Films als
die entscheidenden fünf Minuten. Wenders hatte aber bei der vorangehenden
Pressekonferenz vor einem simplen Antagonismus USA Europa, Kunst
Kommerz gewarnt. Amerikanische Regisseure wie Martin Scorsese, Regisseure
mit einem Independent-Bewusstsein, wüßten und sagten, daß der
amerikanische Film das transatlantische Echo brauche. An der Persönlichkeit
von Wim Wenders, an dieser Art von pragmatischem Visionismus, hängt
in diesen Tagen viel. Es ist zu sehen, daß gerade er, dem man märchenhaften
Mystizismus oder Weltferne vorwirft, die europäische Tradition
des engagierten Künstlers verkörpert, den die Politik nicht aus
der Bahn der Kunst wirft.
Fünf vor Zwölf geht es nicht um Champagner-Folklore,
sondern um Charakter. Die Wörter Gala und Show
wurden im Um- und Vorfeld der Felix-Veranstaltung streng
vermieden. Für Firlefanz war auch kein Geld da. Vier Millionen
Mark kostete der Felix 1992, 2,3 Millionen in diesem
Jahr, und einen beträchtlichen Teil zahlte das Land Brandenburg.
In Babelsberg war Felix schon 1992, und dort scheint
er in seinem sechsten Lebensjahr nun endgültig eingeschult und
fester reglementiert zu werden. 1993 kamen nur noch Filme in den
Endspurt, die in drei europäischen Ländern einen Verleih haben.
Da ist ein Kompromiß zuungunsten sperriger und ungewöhnlicher
Ästhetik, andererseits der rettende Versuch, Felix
aus dem Pusemuckel-Schatten ins Licht der Öffentlichkeit zu bringen.
Daß die Fernsehaufzeichnung beim ZDF aus der Unterhaltungsredaktion
in die Filmredaktion transferiert wurde, ist ein anderes Indiz fürs
Sichfügen ins Faktische. Denn der Samstag war weiß Gott kein flirrender
Unterhaltungsabend, sondern die lockere Verlängerung einer Akademiesitzung
mit dem Charakter kämpferischer Selbstwerbung des europäischen
Films. Eigentlich ein Kinoabend mit Preisvergabe. Was unterhaltsam
wirken sollte, spielte sich nicht auf der Bühne, sondern auf der
Leinwand ab. Ein gutes Dutzend filmischer Grußadressen von allen
möglichen derzeitigen Drehorten in Europa kam nach Potsdam, dazu
gefilmte Gatt-Statements von Stars wie Michel Piccoli. Über einige
der Spots sollte sich freundliches Schweigen legen.
Die enorme Filmprominenz im Babelsberger Saal war nicht gekommen,
um zu glänzen, sondern um ein Gefühl zu stärken, das des filmeuropäischen
Selbst. Jeanne Moreau und Otto Sander sollten die Moderation übernehmen.
Aber Jeanne Moreau war krank geworden, und Fanny Ardant sprang
für sie ein. Ardant, der französischen Eleganten mit der Erotik
latenter Hysterie, stand der Sinn nicht nach Publikumsverführung,
sondern nach deutlichen Worten, und das Thema europäische Filmkulturvernichtung
glitt in alles, was sie sagte, in die Begrüßung wie in die Erinnerung
an Federico Fellini. Fünf vor Zwölf geht es eben nicht anders.
Otto Sander, der magere Berliner Engel, der zwischen Hölderlin-Versen
und Purzelbäumen keinen wesentlichen Kunstunterschied macht,
fand für seine Stimmungsqualitäten bei soviel Ernst der Sache
nicht den rechten Rahmen. Er ist, ohne Bühne, Rolle und Drehbuch,
fast ein wenig schüchtern. Aber wo es moderat zugeht, haben die
Schweigsamen wie Michelangelo Antonioni und die Schüchternen
ihren Platz und oft die schönste Wirkung. Maia Morgenstern, die
für ihre Rolle in dem rumänischen Film Balanta von Lucian Pintilie
den Preis als europäische Schauspielerin des Jahres bekam, machte
dreimal den Mund auf und wieder zu, bis sie ein Wort ins Mikrophon
bekam, drückte den Felix an sich, lief vom Podest
weg und wurde geliebt.
Daniel Auteuil, der in dem französischen
Film Ein Herz im Winter von Claude Sautet die Versteinerung
eines Schüchternen spielt und dafür den Preis als Schauspieler
des Jahres erhielt, wurde von seinem Regisseur bei der Preisvergabe
vertreten.
Sally Potter aus England spricht und filmt selbstbewußt.
Sie verfilmte Orlando, und dieser üppigen Epochen- und Geschlechterreise
wurde der Preis in der Kategorie Junger Europäischer Film des
Jahres zugesprochen. Zum Hauptpreis hin steigerte sich die Stimmung
in Richtung Temperamentsausbruch. Schon weil Werner Herzog den
Hauptpreis bekanntgab. Er riß seinen Freund Nikita Michalkov
in Umarmungslust vom Boden weg.
Michalkovs Film Urga ist der Gewinner
als Europäischer Film des Jahres. Nicht gerade ein ganz neuer
Film. Aber nach den Reglements muß ein Film im Heimatland im
Verleih sein, und das dauerte für Urga in Russland ein wenig.
Dem allen ging noch ein Sonderpreis und ein besonderes Moment
voraus. Den Preis für besondere Verdienste erhielten Erika und
Ulrich Gregor aus Berlin und Naum Kleiman aus Moskau. Kleiman
ist Filmhistoriker und Direktor des Moskauer Filmmuseums. Bei
den Gregors ist es schwer zu sagen, was sie sind, da sich die
Aufgaben, die Herz und Hirn in einem Körper erfüllen, funktionell
nur unzureichend definieren lassen. Die Gregors sind zwar Gründer
und Leiter des Internationalen Forums des jungen Films der Berliner
Filmfestspiele. Aber was heißt das? Sie sind das Zentrum
eines Kreislaufs, in dem Filmkultur, Filmgeschichte und Filmfreundschaft
zirkulieren. Sie sind Freunde von Naum Kleiman aus Moskau zum
Beispiel, was man sehen konnte.
Im übrigen weiß die europäische
Filmöffentlichkeit jetzt, wie sich, nach Selbstaussage von Frau
Gregor, die Gregors kennengelernt haben. Erika (noch nicht Gregor)
besuchte die Vorführung des Films Menschen am Sonntag in einem
studentischen Filmclub mit anschließender Diskussion. Sie äußerte
eine Meinung, die sich zu allen anderen geäußerten Meinungen
konträr verhielt und ging weg, wie man ahnen kann, leicht indigniert.
Einer, als Ulrich Gregor namentlich noch nicht bekannt, kam ihr
nach und fragte, ob sie nicht mal wieder kommen würde, die Diskussionen
seien normalerweise zu langweilig. So also fangen Leidenschaften
und leidenschaftliche Lebenswerke an.
von Ursula März
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