Der Standard, Wien, 5. September 1992, Seite 9
Der
Goldene Löwe schläft noch
Venedigs
Filmbiennale erwartet ab morgen den ersten großen Publikumsansturm
Auch wenn drei mächtige Scheinwerfer den Sternenhimmel
über dem festlich dekorierten Filmpalast bestrahlen und ein
Großaufgebot uniformierter Empfangsdamen rege Betriebsamkeit
vortäuscht: Nicht selten hat man auf der schütter bevölkerten
Asphalt-Plaza zwischen Kinoeingang und Meer das Gefühl, eher
einer provinziellen Büroartikel-Messe beizuwohnen denn einem
renommierten internatinalen Filmfestival.
Der erste große Publikumsansturm wird erst für das
Wochenende erwartet. Und den wenigen Anwesenden blieb bis jetzt
nur die wenig verlockende, aber auch nicht völlig verärgernde
Wahl zwischen hübsch arrangiertem Entertainment und dezentem
Kunstkino. Dementsprechend ist auch das Diskussionsklima: Wohlinformierte
Freundlichkeit statt heftiger Emotionen. Lächelnder Kaffeeplausch
ersetzt ernsthafte, herzhafte Bekenntnisse.
Was ist über die Verfilmung eines Drehbuchs von Ingmar
Bergman durch Daniel Bergman schon mehr zu sagen, als daß
die kompositorischen Fähigkeiten des Vaters in der Inszenierung
des Sohnes nicht ganz eingelöst werden.
Starker Familiensinn
Söndagsbarn (Sonntagskinder), hier in der Nebenreihe Woche
der Kritik zu sehen, ist ein recht anrührendes Dokument zwiefach
beseitigter Generationenkonflikte: Ingmar versöhnt sich im
Film mit einem lebenslangen Angstgegner, seinem Vater. Daniel
wird kinematografischer Nepotismus zum Vorlaßverwalter
seines eigenen überlebensgroßen Altvorderen. Bergmans
Kurzfilm Daniel (1969), eine nette Montage von Super 8-Familienfilmen,
verbreitete an diesem Tag ein Gefühl kunstvollen Familiensinns.
Eine kleine Überraschung bot im Wettbewerb
die neue Arbeit des französischen Alt-Regiestars Claude
Sautet (Cesar und Rosalie): Un coeur en hiver
(Ein Herz im Winter) ist eine an Gesellschaftsliteratur
von 1900 erinnernde Charakterstudie. Ein Lautenbauer (Daniel Auteuil)
im Paris der Jetztzeit kann sich die Liebe zu einer jungen Violinisten
(Emmanuelle Béart) nicht eingestehen.
Frei von aufgesetzten Sinnfindungsdialogen, alles in allem ein
raffiniertes Gewebe von herzzerreißenden Klängen und
Blicken, kommt jedoch auch dieser Film nicht über die Barriere
der Gefälligkeit hinaus. Am Ende steht eine etwas diffuse
Hoffnung: Neubeginn, ja danke. Nur bitte jetzt noch nicht.
So geht es eigentlich auch dem Kino, das hier zu sehen ist.
In dem Vakuum einer letztlich stillschweigenden Einigung zwischen
Künstlern und Rezensenten gleichsam nach dem Motto: Mehr
ist derzeit einfach nicht drin nimmt es schon wunder,
wenn Filme wie Bertrand Taverniers Pariser Polizei-Doku-Drama
L.627 entstehen.
Der Titel bezieht sich auf einen Passus im französischen
Strafgesetz, in dem die Probleme spezialisierter Drogenfahndungs-Einheiten
definiert werden. Über zweieinhalb Stunden hetzt ein betont
naturalistischer Gesetzeshüter und Anti-Held durch ein Gewirr
aus Prostitution, Crack und AIDS-Infizierten.
Zeigefinger-Etüde
Um ihn herum entwickelt Tavernier eine streckenweise brillante
Huldigung an unspektakuläre Arbeit am Rand zum sozialen Wahnsinn,
leider aber auch eine bisweilen etwas penetrante Etüde für
gerunzelte Stirn und erhobenen Zeigefinger: So ist es, meine französischen
Mitbürger, und es sollte anders werden. Tatsächlich
war der Anlaß für L.627 eine (mittlerweile überwundene)
Drogensucht von Taverniers Sohn.
Die amerikanischen Produktionen ergehen sich am Lido in gepflegter,
leichtverdaulicher Unterhaltung mit Niveau. The Public
Eye, eine von Robert Zemeckis (Zurück in die Zukunft)
produzierte Hommage an die New Yorker Sensations-Fotografen der
40er Jahre, vermochte nur seine Stars zu überzeugen.
Joe Pesci kommt als räudiger Meister des Blitzlichts einem
monströsen Mafiakomplott auf die Schliche und verliebt sich
nun dabei in eine (für seine Verhältnisse geradezu exquisite)
Barbesitzerin, dargeboten von Barbara Hershey. Ein wenig bittersüß,
ein wenig spannend, ein wenig komisch, und sehr, sehr berechenbar.
von Claus Philipp
(aus Venedig)
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