Ein Herz im Winter
„Ein Herz im Winter” — “Un Coeur en Hiver” — A Heart in Winter”
Frankreich 1992 – Regie: Claude Sautet – Musik: Maurice Ravel
mit André Dussollier (Maxime), Emmanuelle Béart (Camille) und Daniel Auteuil (Stéphane)
 
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Der Standard
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Der Standard, Wien, 5. September 1992, Seite 9

Der Goldene Löwe schläft noch

Venedigs Filmbiennale erwartet ab morgen den ersten großen Publikumsansturm

Auch wenn drei mächtige Scheinwerfer den Sternenhimmel über dem festlich dekorierten Filmpalast bestrahlen und ein Großaufgebot uniformierter Empfangsdamen rege Betriebsamkeit vortäuscht: Nicht selten hat man auf der schütter bevölkerten Asphalt-Plaza zwischen Kinoeingang und Meer das Gefühl, eher einer provinziellen Büroartikel-Messe beizuwohnen denn einem renommierten internatinalen Filmfestival.

Der erste große Publikumsansturm wird erst für das Wochenende erwartet. Und den wenigen Anwesenden blieb bis jetzt nur die wenig verlockende, aber auch nicht völlig verärgernde Wahl zwischen hübsch arrangiertem Entertainment und dezentem Kunstkino. Dementsprechend ist auch das Diskussionsklima: Wohlinformierte Freundlichkeit statt heftiger Emotionen. Lächelnder Kaffeeplausch ersetzt ernsthafte, herzhafte Bekenntnisse.

Was ist über die Verfilmung eines Drehbuchs von Ingmar Bergman durch Daniel Bergman schon mehr zu sagen, als daß die kompositorischen Fähigkeiten des Vaters in der Inszenierung des Sohnes nicht ganz eingelöst werden.

Starker Familiensinn

„Söndagsbarn” („Sonntagskinder”), hier in der Nebenreihe „Woche der Kritik” zu sehen, ist ein recht anrührendes Dokument zwiefach beseitigter Generationenkonflikte: Ingmar versöhnt sich im Film mit einem lebenslangen Angstgegner, seinem Vater. Daniel wird – kinematografischer Nepotismus – zum Vorlaßverwalter seines eigenen überlebensgroßen Altvorderen. Bergmans Kurzfilm „Daniel” (1969), eine nette Montage von Super 8-Familienfilmen, verbreitete an diesem Tag ein Gefühl kunstvollen Familiensinns.

Eine kleine Überraschung bot im Wettbewerb die neue Arbeit des französischen Alt-Regiestars Claude Sautet („Cesar und Rosalie”): „Un coeur en hiver” („Ein Herz im Winter”) ist eine an Gesellschaftsliteratur von 1900 erinnernde Charakterstudie. Ein Lautenbauer (Daniel Auteuil) im Paris der Jetztzeit kann sich die Liebe zu einer jungen Violinisten (Emmanuelle Béart) nicht eingestehen.

Frei von aufgesetzten Sinnfindungsdialogen, alles in allem ein raffiniertes Gewebe von herzzerreißenden Klängen und Blicken, kommt jedoch auch dieser Film nicht über die Barriere der Gefälligkeit hinaus. Am Ende steht eine etwas diffuse Hoffnung: Neubeginn, ja danke. Nur bitte jetzt noch nicht.

So geht es eigentlich auch dem Kino, das hier zu sehen ist. In dem Vakuum einer letztlich stillschweigenden Einigung zwischen Künstlern und Rezensenten – gleichsam nach dem Motto: „Mehr ist derzeit einfach nicht drin” – nimmt es schon wunder, wenn Filme wie Bertrand Taverniers Pariser Polizei-Doku-Drama „L.627” entstehen.

Der Titel bezieht sich auf einen Passus im französischen Strafgesetz, in dem die Probleme spezialisierter Drogenfahndungs-Einheiten definiert werden. Über zweieinhalb Stunden hetzt ein betont naturalistischer Gesetzeshüter und Anti-Held durch ein Gewirr aus Prostitution, Crack und AIDS-Infizierten.

Zeigefinger-Etüde

Um ihn herum entwickelt Tavernier eine streckenweise brillante Huldigung an unspektakuläre Arbeit am Rand zum sozialen Wahnsinn, leider aber auch eine bisweilen etwas penetrante Etüde für gerunzelte Stirn und erhobenen Zeigefinger: So ist es, meine französischen Mitbürger, und es sollte anders werden. Tatsächlich war der Anlaß für „L.627” eine (mittlerweile überwundene) Drogensucht von Taverniers Sohn.

Die amerikanischen Produktionen ergehen sich am Lido in gepflegter, leichtverdaulicher „Unterhaltung mit Niveau”. The Public Eye, eine von Robert Zemeckis („Zurück in die Zukunft”) produzierte Hommage an die New Yorker Sensations-Fotografen der 40er Jahre, vermochte nur seine Stars zu überzeugen.

Joe Pesci kommt als räudiger Meister des Blitzlichts einem monströsen Mafiakomplott auf die Schliche und verliebt sich nun dabei in eine (für seine Verhältnisse geradezu exquisite) Barbesitzerin, dargeboten von Barbara Hershey. Ein wenig bittersüß, ein wenig spannend, ein wenig komisch, und sehr, sehr berechenbar.

von Claus Philipp (aus Venedig)
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