Stell­ver­tre­tend hier die zwei sehr gelun­ge­nen Krik­ti­ken aus SZ und FAZ. Vie­le wei­te­re Kri­ti­ken fin­den Sie auf der archi­vier­ten Ver­si­on die­ser Web­site, die von 1999 bis 2020 online war (sie­he unten).

Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung, 7. Okto­ber 1993:

Sie springt, er denkt

Fast nichts, also Kunst – „Ein Herz im Winter”, der neue Film von Claude Sautet

Eine jun­ge, sehr hüb­sche auf­stre­ben­de Gei­ge­rin ver­liebt sich in einen Gei­gen­bau­er, und zwar in Paris. O je! Das klingt schon wie­der nach Bezie­hungs­kis­te und prä­ten­tiö­ser Lan­ge­wei­le, über­haupt nach jener „Film­kunst”, die in Euro­pa gera­de so dra­ma­tisch ver­fällt. Und der Film ist auch kein biß­chen üppig und uni­ver­sal, dröh­nend und panisch um die Über­trump­fung sei­ner selbst beküm­mert wie das Hol­ly­wood­ki­no heu­ti­ger Mach­art, das uns der „Spie­gel” als Alter­na­ti­ve ent­ge­gen­hält und tap­fer gegen den euro­päi­schen Pro­tek­tio­nis­mus verteidigt.

„Ein Herz im Win­ter” von Clau­de Sau­tet ist anders — ganz anders, ver­steht sich, als die Fil­me, in denen nur die Sau­ri­er noch natür­lich wir­ken, die Schau­spie­ler hin­ge­gen wie künst­lich ani­mier­te Sprech­pup­pen, anders aber auch als all die Kunst­fil­me, in denen die Kunst ans Kunst­wol­len nicht mehr her­an­reicht, zumal wenn sie von einem ohne­hin immer sel­te­ner gewor­de­nen The­ma wie der Lie­be han­deln. Wor­in besteht die Differenz?

Sie ist leicht zu erklä­ren, doch schwer zu beschrei­ben: Sie ergibt sich aus der Kon­zen­tra­ti­on der Schau­spie­ler auf ihre Rol­len und der des Regis­seurs auf die Schau­spie­ler. Manch­mal fällt auch die­ser Film hin­ter sie zurück, etwa wenn Emma­nu­el­le Béart das Gei­gen­spiel mimt — der Anblick schein­mu­si­zie­ren­der Schau­spie­ler ist immer etwas pein­lich. Die Musik aller­dings, Ravels Vio­lin- und Trio­so­na­ten mit ihren unbe­greif­lich orga­ni­schen Über­gän­gen von rau­hes­ten Stac­ca­ti in ele­gan­tes Schmach­ten, ist hinreißend.

Zum Tra­gen kommt die Dif­fe­renz, von der hier die Rede ist, vor allem in den Dia­log­sze­nen zwi­schen Emma­nu­el­le Béart als Camil­le und Dani­el Auteuil als Sté­pha­ne, die zumeist in der Öffent­lich­keit statt­fin­den, in Cafés oder gar unter den Augen des Drit­ten im Drei­eck. Erst durch Maxi­me (André Dus­so­lier), den Com­pa­gnon Sté­pha­nes und Gelieb­ten Camil­les näm­lich, haben sie sich über­haupt ken­nen­ge­lernt. Die ero­ti­sche Anzie­hung ist sofort spür­bar, doch kaum ding­fest zu machen.

Es ist ein Thea­ter aus ver­stoh­le­nen Bli­cken, zusam­men­ge­knif­fe­nen Lip­pen, win­zi­gen Ver­le­gen­heits­ges­ten und Gesprächs­pau­sen, die eine hal­be Sekun­de zu lang dau­ern. Béarts und Auteuils Spiel ist Wel­ten ent­fernt von der mus­ku­lö­sen Schau­spiel­me­tho­de Hol­ly­woods, in der noch Lid­schlä­ge anmu­ten, als wären sie an Gewich­ten trai­niert. Béart und Auteuil sind Mini­ma­lis­ten, sie gehen an die Gren­ze des Wahr­nehm­ba­ren. So las­sen sie den Zuschau­ern Raum für Pro­jek­tio­nen. Errö­tet sie tat­säch­lich, als er sie, aus­nahms­wei­se mal, unver­wandt ansieht?

Clau­de Sau­tet erzählt nicht, wie etwas geschieht, son­dern wie etwas nicht geschieht. Sté­pha­ne ver­paßt die Chan­ce auf Camil­les Lie­be. Die­se Kata­stro­phe begeht der Film in aller Stil­le. „Ich begeh­re Sie”, sagt Camil­le, mit auf­ge­reg­tem, weit offe­nem Blick. Dies erin­nert an eine Stel­le in Sar­tres „Ekel”: Man müs­se „eine Ver­blen­dung haben”, um jeman­den zu lie­ben, heißt es da, „es gibt sogar einen Moment, ganz am Anfang, wo man über einen Abgrund sprin­gen muß: wenn man nach­denkt, tut man es nicht.” Camil­le springt, Sté­pha­ne denkt nach. „Ich lie­be Sie nicht”, sagt er dann und lügt dabei.

Ihr Blick erlischt, sei­ner bleibt undurch­dring­lich — fast nichts ist den bei­den anzu­se­hen. „Fast nichts” – pres­que rien – hieß eine Kate­go­rie der klas­si­schen fran­zö­si­schen Thea­ter­äs­the­tik. So wur­de die unbe­nenn­ba­re Nuan­ce umschrie­ben, die Kunst von Prä­ten­ti­on abhebt. Die Zuschau­er müs­sen emp­find­lich genug sein, sol­che Nuan­cen zu regis­trie­ren, um die Abgrün­de der Lei­den­schaft unter der stil­len Ober­flä­che zu ermes­sen. Im deut­schen Publi­kum wird „Ein Herz im Win­ter” daher wohl nur weni­ge Freun­de finden.

von Thier­ry Chervel

Süd­deut­sche Zei­tung, Nr. 232/1993 vom 7. Okto­ber 1993, Sei­te f16:

Ich liebe Sie nicht.

Claude Sautets großartiger Film „Ein Herz im Winter”

Ein eisi­ges Herz schlägt auf dem Grund die­ses Films und treibt die Geschich­te gna­den­los ihrem Ende zu. Der dump­fe Schlag stammt von Ler­mon­tows Novel­le, die beim Dreh­buch Pate stand. Dar­in geht es um einen Mann, der eine Frau zur Lie­be ver­führt, nur um ihr dann sagen zu kön­nen: Ich lie­be Sie nicht! Von die­ser Anek­do­te ist am Ende nichts als die Abfuhr übrig geblie­ben, aber man kann ihre Grund­zü­ge noch sche­men­haft erken­nen. Wie einen blei­chen Fisch unter dem Eis eines zuge­fro­re­nen Sees.

Der Titel „Ein Herz im Win­ter” sagt schon alles über den Hel­den. Sei­ne Gefüh­le sind ein­ge­fro­ren, sein Herz ist ver­eist. Man sieht es ihm nicht gleich an, denn die Schweig­sam­keit und Bedacht­heit sind Teil sei­nes Berufs. Sté­pha­ne (Dani­el Auteuil) ist Gei­gen­bau­er und gibt sich sei­ner Arbeit mit jener Ver­sun­ken­heit hin, die die­ses in die Stil­le gerich­te­te Hand­werk erfor­dert. Da ergänzt er sich ide­al mit sei­nem Freund und Part­ner Maxi­me (André Dus­sol­lier), der im Umgang mit den Musi­kern jenes Geschick besitzt, das Sté­pha­ne im Umgang mit sei­nen Instru­men­ten aus­zeich­net. Die bei­den haben sich in ihrer Lie­be zur Musik gefunden.

Schon der Anfang beweist Sau­tets Meis­ter­schaft. Da legt sich Sté­pha­nes Stim­me über einen kur­zen Bil­der­bo­gen aus dem Leben der bei­den Freun­de. Man sieht sie, wie sie Musi­kern beim Vor­spiel mit ver­stimm­tem Instru­ment zuhö­ren, wie sie in der Werk­statt gemein­sam Hand anle­gen, wie sie beim Kon­zert applau­die­ren, wie sie Squash spie­len und im Restau­rant sit­zen. Danach weiß man alles über ihre Hin­ga­be, ihr Ver­ständ­nis, ihr Ver­hält­nis. Maxi­me nimmt das Leben und die Lie­be auf die leich­te Schul­ter, Sté­pha­ne sieht ihm dabei neid­los zu. Der eine macht aus dem Leben eine Kunst, der ande­re aus der Kunst ein Leben.

Da kommt die Gei­ge­rin Camil­le (Emma­nu­el­le Béart) ins Spiel, und dies­mal ist es Maxi­me zur Abwechs­lung ernst. Er zeigt sie sei­nem Freund in einem Restau­rant, wo sie ein paar Tische ent­fernt sitzt. Spä­ter bringt er sie mit in die Werk­statt, wo sie Sté­pha­ne ihr ver­stimm­tes Instru­ment vor­führt. Er hört ruhig zu, dann macht er sich ans Werk. Zu Camil­le äußert er sich Maxi­me gegen­über nicht wei­ter. Er sieht zu und war­tet ab. Er kennt sei­nen Freund. Aber schon bald wird klar, daß Camil­le Sté­pha­nes ruhi­ge Art als auf­rei­zend emp­fin­det. Bei einem Haus­kon­zert kommt sie unter sei­nem unge­rühr­ten Blick mehr­fach aus dem Takt. Die bei­den, wür­de man sagen, fin­den ein­an­der nicht son­der­lich sym­pa­thisch. Aber sie haben eben in Maxi­me einen gemein­sa­men Freund.

Eine Cho­reo­gra­phie aus Ges­ten und Bli­cken ent­wirft Clau­de Sau­tet in die­sem Film, in der sich Unge­sag­tes und Unmerk­li­ches zur wah­ren Geschich­te des Films auf­schwin­gen. Im küh­len Arran­ge­ment der Bil­der wer­den die Span­nun­gen, die sich zwi­schen den drei­en auf­bau­en, nach und nach greif­bar. Und die Regie unter­nimmt alles, ihnen kei­ne Mög­lich­keit zum Ent­wei­chen zu bie­ten. Es gibt kei­ne klä­ren­den Wor­te, kei­ne ein­deu­ti­gen Absich­ten. Es gibt nur die Emo­tio­nen, die sich schlei­chend aus­brei­ten. Man könn­te es auch Lie­be nennen.

Camil­le ver­liebt sich in Sté­pha­ne. Aber der ver­leug­net sei­ne Gefüh­le. Viel­leicht hat er Angst; viel­leicht ist er dazu ein­fach nicht fähig. Atem­los folgt man dem grau­sa­men Spiel und fragt sich mit Camil­le, wie es mög­lich war, daß man sich so täu­schen konn­te: „Als Sie mich besuch­ten, im Stu­dio, als es reg­ne­te. Das habe ich doch nicht geträumt.” In der Tat war das eine wun­der­ba­re Sze­ne. Alles schien mög­lich. Wie im Traum.

Die gran­dio­se Kame­ra von Yves Ange­lo orga­ni­siert die Räu­me so, daß die Ober­flä­chen so trans­pa­rent wie mög­lich wir­ken. In jener Sze­ne im Ton­stu­dio etwa geht Sté­pha­nes Blick durch eine Glas­schei­be, wor­in sich gleich­zei­tig ganz gut sein Ver­hält­nis zur Welt spie­gelt. So wird immer wie­der die Distanz spür­bar, die der Held zwi­schen sich und sei­ne Umge­bung gelegt hat.

Sté­pha­ne, der in sei­ner Frei­zeit Spiel­uh­ren repa­riert, erwar­tet auch vom Leben rei­bungs­lo­ses Funk­tio­nie­ren. Die Emo­tio­nen erschei­nen ihm wie Sand im Getrie­be der selbst auf­er­leg­ten Per­fek­ti­on. Den rei­nen Klang, den er von den Gefüh­len erwar­tet, fin­det er nur in der Musik. So hat er alle Lei­den­schaft in sei­nen Instru­men­ten begra­ben. Als gin­ge ihm selbst der Reso­nanz­bo­den für sei­ne Gefüh­le ab.

Gera­de durch die Ver­leug­nung schei­nen sich die Gefüh­le beson­ders deut­lich abzu­zeich­nen. Der Film pul­siert vor inne­rer Span­nung, und der äuße­re Ablauf paßt sich dem an. Die Geschich­te scheint in ihrem Fort­gang zu chan­gie­ren wie die Stim­mun­gen. Bis zum Ende. Das ist ein Anfang. Früh­ling, Schnee­schmel­ze, und die ers­ten Trie­be bre­chen durchs Eis.

(in Mün­chen im Film­ca­si­no, Odys­see, Rex, Isa­bell­la, Cinema)

von Micha­el Althen

Archivierte Version

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